Der Baum des Lebens
Warum sind Bäume überall auf der Welt so eng mit der geistigen Schulung und Entwicklung des Menschen verknüpft, was sahen die Weisen der Alten Welt im Baum, dass er eine so zentrale Stellung in ihrem Weltbild einnahm? Archäologie und Mythologie haben uns viele Hinweise erschlossen, die diese Fragen beantworten können, und die Gesamtheit der Belege ergibt ein einheitliches, internationales und religionsübergreifendes Bild.
In den esoterischen Lehren ist der Baum zuersteinmal ein vollkommenes Symbol für das Leben selbst: der Lebensbaum. Er stellt gleichzeitig auch die Gesamtheit des Universums dar, denn letztendlich ist alles Existierende mit Geist erfüllt: der Weltenbaum. Sein Stamm wurzelt im Urgrund, und die mächtige Krone trägt die Vielfalt der Erscheinungen der Schöpfung. In seinen Samen befinden sich alle Pflanzen- und Tierarten. Im alten Ägypten, Mesopotamien und Griechenland waren auch die Sterne seine Früchte. Der Baum des Lebens schenkt Nahrung und Heilmittel für alle Wesen. Er ist unsterblich und gewährt auch den Menschenseelen Unsterblichkeit, entweder durch seine Früchte (die der griechische Herakles von den Hesperiden stiehlt; die die germanische Frühlingsgöttin Iduna den Asen spendet) oder durch seinen Saft (in Altpersien Haoma, in Indien Soma, im keltisch-germanischen Raum der Sud des heiligen Kessels), der auch Allwissen und Erleuchtung spendet. Vor etwa 2600 Jahren sagte daher der altpersische Hohepriester Zarathustra: „Für die Seele ist er der Weg zum Himmel.“
Der weitverzweigte Lebens- oder Weltenbaum ist die unsichtbare, geistige Struktur des Kosmos, dessen physische Struktur unsere Tele- und Mikroskope eher in Kugelformen und Kreisbewegungen wahrnehmen. Besonders in der jüdischen Kabbala und den Veden Altindiens wird die geistige Natur des Weltenbaumes betont: In beiden Traditionen wächst der Weltenbaum von oben (geistige Welt) nach unten (in die Welt der stofflichen Erscheinungen hinein).
Auch in der Materie offenbart sich die Urform des Baumes immer wieder, nicht nur in der Vegetation, sondern z.B. auch in der Geographie von Flussdeltas, oder im Wuchs des Nervensystems und Blutkreislaufes der Tiere. Besonders im menschlichen Hirn gleichen diese Netzwerke einer Baumkrone, mit der Wirbelsäule als Stamm – was schon in altägyptischen Schriften und besonders der indischen Yogalehre (Kundalini) von Bedeutung war (und ist).
Der Baum des Lebens wird in den meisten Mythen von einem Drachen oder einer Schlange bewacht, die den Geist der Erde symbolisieren (die Erde „hütet“ das Geschenk des Lebens), die bewegliche Schlange ist außerdem ein Bild für den lebendigen, quecksilbrigen Saft, der den Baum durchströmt.
Islamische, jüdische wie christliche Überlieferung kennen auch den Paradiesgarten mit dem Lebensbaum im Zentrum, ein Urbild, das auf den mesopotamischen Mythos vom Garten Eden zurückverfolgt werden kann. Auch die Schlange ist in diesen Traditionen bekannt, aber nur in der Auslegung der christlichen Kirche rückt die Geschichte um das erste Menschenpaar in ein Licht von Schuld und ‘Sünde’. Tatsächlich aber waren hier, wie beispielsweise auch bei den Ureinwohnern Hawaiis, der Lebensbaum und der Baum der Erkenntnis EINS. Der Lebensbaum schenkt allen Wesen Nahrung, das beinhaltet auch geistige Nahrung. Der Baum der Erkenntnis („von Gut und Böse“, in christlicher Terminologie) ist lediglich ein weiterer Aspekt des Lebensbaumes. Da der Weltenbaum alles IST, bringt eine (zumindest teilweise) mystische Vereinigung mit ihm eben auch Wissen. Daher suchen sibirische Schamanen den Weltenbaum auf, um an ihm empor in die geistige Welt zu „klettern“, daher brachte Odin seinem Volk die Runen vom Baume mit, daher fand die Ausbildung der Druiden im Wald statt, daher suchte Buddha den Baum zur Erleuchtung auf, daher beteten Menschen überall auf der Welt bei Bäumen.
Auch die frühen Kirchenväter wussten um diese Dinge. Noch im 3. Jahrhundert pries der Bischof Roms den Weltenbaum öffentlich als „Stützpunkt des Alls, Ruhepunkt aller Dinge, Grundlage des Weltenrunds und kosmischen Angelpunkt“. Doch ein Jahrhundert später begann bereits die systematische Zerstörung heiliger Haine durch die römische Kirche. Der buddhistische „Baum der Erleuchtung“, der jüdische „Baum des Lebens“ – im Christentum wurde er der verabscheute „Baum der Versuchung“. Und dies wurde für die folgenden sechzehn Jahrhunderte langsam zur vorwiegenden Einstellung des Abendlandes zur Natur allgemein. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts gipfelt die Missachtung des Lebens in einer Wissenschaft und Politik, die den Lebensbaum durch einen neuen, allein durch den Menschen geschaffenen, ersetzen will – mittels Gentechnik.
Auszug aus einem Artikel Fred Hageneders in Die andere Realität, München, Januar 2001
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